30. Die weiße Gefahr

 

Zucko schaute verblüfft aus dem Schuppenloch ins Freie. Schwipp — segelte ein weißes Ding auf seine schwarze Nase, und er fuhr sich erschrocken mit den Pfoten darüber. Die Luft war voll solcher weißer Dinger, die er nicht kannte.
Papa Korno drängte sich neben ihn. „Es schneit !“ quiekte er, „oh weh, alles ist schon weiß — da wird es schwer für uns, etwas zu fressen zu finden. Und man kriegt schrecklich kalte Pfoten!“
Doch der Hunger trieb die Mäusefamilie aus dem Schuppen. Schnuppernd trappelten sie durch den Schnee zum Walnussbaum und suchten unter seinen Wurzeln nach Käferlarven.
Keiner bemerkte die Spur im frischgefallenen Schnee, die Spur aus kleinen runden Abdrücken, die zum Baumstamm führte.
Und keiner bemerkte die schmalen gelben Augen, die die Mäusefamilie vom untersten Ast des Baumes gierig beobachteten.
Das Tier, zu dem die Augen gehörten, überlegte gerade, wie es möglichst lautlos vom Baum herunterklettern könne, um sich da unten einen Leckerbissen zu holen. Es erhob sich langsam, setzte unhörbar Pfote vor Pfote und gelangte vom Astende zum Stamm.
Mama Salamine spitzte die Ohren. Was war da plötzlich für ein Geräusch über ihnen im Baum? Es ritschte und kratzte am Stamm, und Mama Salamine strengte ihre Augen an, um im dichten Schneefall etwas zu erkennen.
Ihr schriller Quieker alarmierte die andern: „Quiiiek — flieht — so schnell ihr könnt — die weiße Katze!“
Erst am Schuppenloch wagte Mama Salamine sich umzudrehen — die weiße Katze hing in der Hälfte des Stammes am Walnussbaum und sah ihnen mit ihren gelben Augen nach. Oh, wie war sie schon so groß geworden! Kein kleines verspieltes Kätzchen mehr, sondern eine echte Gefahr!
Mama Salamine schlüpfte mit den andern ins Loch — steckte dann aber den Kopf noch einmal hinaus — und streckte doch tatsächlich der Katze die Zunge heraus!
Im Nest beratschlagten dann alle, wie sie sich vor der weißen Katze schützen könnten. „Erst die böse weiße Maus — und jetzt die böse weiße Katze!“ schimpfte Zucko, und Papa Korno grummelte: „Und man sieht das Untier kaum im weißen Schnee, so weiß wie es ist! — Es kommen schwere Zeiten auf uns zu!“
Hungrig und in gedrückter Stimmung kauerten die Mäuse im Nest, als Mehlinchen und Mausmöpschen laut piepselnd zum Loch hereinstürmten. „Es gibt eine tolle Neuigkeit!“ kreischte Mehlinchen aus vollem Hals, „eine supertolle!“
„Ja — das weiße Untier, das da draußen auf uns lauert!“ knurrte Papa Korno mürrisch, „wirklich eine tolle . . .“
Mehlinchen war so begeistert, dass es Papa Korno nicht ausreden ließ. „Wir können wieder zurück in unsern Keller im Gasthaus mit dem Viezfass!“ schrie es.
„Wie? Was?“ — Papa Korno starrte Mehlinchen ungläubig an. „Red’ keinen Unsinn, Mehlinchen!“ setzte er nach.
Doch Mehlinchen und Mausmöpschen sprudelten hervor: „Es liegt ein neues Viezfass im Keller, viel größer als das alte, mit viel Platz dahinter — wir haben es gesehen!“
Papa Korno und Mama Salamine sahen sich an. Wenn das wahr wäre...!
Papa Kornos finstere Miene hellte sich auf: „Dann können wir ja wirklich zurück!“ — „Und sind die weiße Katze los!“ piepste Mama Salamine atemlos.
In der folgenden Nacht sah ein runder Vollmond vom Apfelborner Himmel herab eine Mäusefamilie mit Sack und Pack über die stillen verschneiten Wege trippeln — vom Schuppen ins Gasthaus mit dem Viezfass.

 

— ENDE —
 

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