18. Der
Falkenstall
Mama
Salamine riss ihre Augen weit auf und schaute verblüfft auf die
leere Schuppenwand. Der Gerstensack war weg. Verschwunden. Gestern
Mittag hatte sie sich das Bäuchlein noch vollgeschlagen, doch jetzt,
kein Frühstück, nichts.
„Ich mach’ mich auf die Suche“, sagte Schoggel, und sein Magen
knurrte laut. Alle Familienmitglieder außer Papa Korno liefen
auseinander, um den Futtersack zu suchen.
Mehlinchen tippelte einen schmalen Gartenweg entlang und stand auf
einmal hinter dem Schuppen und vor einem kleinen Holzhaus, das es
noch nie gesehen hatte. Schnüffelnd lief es um das Holzhaus herum,
schlüpfte durch einen Maschendrahtzaun und gelangte zu einem
schrägen Holzbrett, das zu einem Türchen führte. Neugierig krabbelte
Mehlinchen das Brett hinauf, fand in dem Türchen ein Astloch und
quetschte sich hindurch.
Es befand sich in einem dämmrigen Raum und konnte zunächst gar
nichts erkennen, als es plötzlich ein lautes Glucksen vernahm.
Ängstlich schaute es sich um, und sein Mauseherz machte vor Schreck
einen Hopser, als es hinter sich auf einem Holzgerüst im Dämmerlicht
sechs riesige Federklumpen mit spitzen Schnäbeln sah. Die plusterten
ihre Federn und glotzten Mehlinchen mit schiefen Hälsen an.
Mehlinchen war schneller wieder durch das Astloch hinausgewitscht,
als die Federklumpen ihm nachblicken konnten, flitzte nach Hause ins
Nest, kuschelte sich an Papa Korno und piepselte: „Ui, Papa Korno,
oh weh, da waren viele große Falken in einem Häuschen, die haben die
Köpfe schiefgehalten und mich mit bösen Augen angeguckt!“ — „Was
quasselst du da?“ quiekte Papa Korno, „Falken in einem Häuschen? Das
gibt’s nicht. Falken fliegen Kreise am Himmel, die sitzen nicht in
einem Häuschen.“
Schoggel, der gerade zurückgekommen war, grinste mit breiter
Schnauze: „Oh, Mehlinchen, was bist du dumm!“ Er wandte sich zu Papa
Korno: „Mehlinchen war im Hühnerstall, ich habe es herauskommen
sehen!“ Papa Korno lachte, kicherte eine ganze Weile vor sich hin —
und sagte dann plötzlich: „Im Hühnerstall — natürlich, nur im
Hühnerstall kann der Gerstensack sein!“
Als die ganze Familie Mausekatz hungrig wieder zum Nest
zurückgekehrt war, wurde beschlossen, gemeinsam im Hühnerstall nach
dem Sack zu suchen. Mehlinchen piepselte: „Ich hab’ aber Angst!
Vielleicht sind es doch Falken!“ — „Weißt du was“, sagte Kässy, „du
nimmst einen kleinen Lappen aus unserem Nest mit, und im Hühnerstall
kriechst du darunter, bis wir den Sack gefunden haben!“
Es kommt meist alles anders, als man es sich vorgestellt hat. Die
Hühner im Stall interessierten sich nicht für die Mäuse, die auf dem
hölzernen Boden unter ihrer Stange herumwuselten. Aber der Lappen,
der Lappen, unter dem Mehlinchen hockte, den fanden sie sehr
interessant. Ein Huhn flatterte von der Stange zum Lappen, pickte
danach, ein zweites ebenfalls, und ein drittes packte den Lappen und
zog ihn weg.
Mehlinchen quiekte auf, machte Männchen vor Entsetzen und schoss
einem Huhn zwischen den nackten Beinen hindurch. In seiner Panik
kroch es unter eine weiße Kugel, die auf dem Boden lag und seitlich
eine Öffnung hatte.
Die Hühner kümmerten sich nicht weiter um Mehlinchen, sondern eins
nach dem andern spazierte zum Hühnertürchen und über die
Hühnerleiter in die Morgensonne hinaus.
Kässy und Zucko hatten derweil in einer Ecke des Hühnerstalls neben
dem Nesterregal den Gerstensack entdeckt und festgestellt, dass er
oben fest zugebunden war. „So ein Mist!“ knurrte Zucko, „ich hab’
so’n Hunger!“ Kässy knurrte nicht, sie begann am Fuß des Sackes zu
nagen. Ritsch, ratsch, biss sie die Fasern des Stoffes durch, nagte
und zerrte — bis die ersten Gerstenkörner aus dem Sack kollerten.
Dann knusperte sie drauflos. Schoggel sprang herbei, vergrößerte
gierig das Loch, und kurz darauf saß die ganze Familie Mausekatz um
das Sackloch und schmauste. Schmauste — bis sich plötzlich ein
seltsames Wesen zwischen sie schob.
Es war ein weißes halbkugeliges Ding — mit einem Mauseschwanz! Alle
wichen verdutzt zurück. Da, aus einer kleinen Öffnung in der weißen
Kugel lugte ein Mauseschnäuzchen hervor — Mehlinchens Schnäuzchen!
Das gab ein Gequieke! Papa Korno hielt sich seinen Gerstenbauch vor
Lachen. „Habe ich verrückte Kinder!“ platzte er heraus, „kriechen
unter Eierschalen herum wie Schnecken unter dem Schneckenhaus!“
Das lustige Gelächter fand ein jähes Ende, als die Stalltür
aufgerissen wurde, ein Mensch hereintrampelte, den Gerstensack
packte und fortschleppte. Da Familie Mausekatz die Menschensprache
einigermaßen verstand, hörte sie noch, wie der Mensch draußen
schimpfte: „Zum Donnerwetter! Schon wieder ein Loch im Sack! Alles
rieselt raus! Die verflixten Mäuse — eine Katze muss her, eine neue
Katze!“
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