4.
Mehlinchen in Gefahr
Den
Rest der Nacht kauerte Mausekind Zucko
im Nest hinter dem Viezfass, und
sein abgezwacktes Schwänzlein hing über
den Nestrand auf den Kellerboden.
Die Morgensonne blinzelte schon durch
das Kellerfenster, als Doktor Schneid,
der Mäusearzt, endlich um die Ecke
bog. Er war groß und hager und
hatte eine Brille aus winzigen grünen
Glasscherben auf der Nase sitzen.
Dahinter funkelten seine schwarzen
Kugelaugen so streng, dass Zucko große
Angst bekam. Dr. Schneid nahm Zuckos
Schwanzstummel zwischen die Vorderpfoten,
betrachtete ihn genau und quäkte:
„Sieht böse aus!“ Zuckos Schnurrbart
zitterte, als Dr. Schneid seine Tasche
öffnete und eine spitze Schere
herausfiel.
Doch der Mäusearzt wühlte etwas
anderes aus seiner Tasche hervor, ein
Fläschchen mit blauer Flüssigkeit und
einen Pinsel aus Wollgras. Er tunkte
den Pinsel in die Flasche und
betupfte dann Zuckos wundes Schwanzende.
Es brannte furchtbar, doch Zucko biss
seine Nagezähne zusammen, weil er sich
vor den andern Mäusekindern schämte.
Nach der Pinselei kam Honigsalbe auf
die Wunde und zum Schluss ein
Verband aus einem Wundkleeblatt.
Als Mama Salamine den Mäusedoktor
gerade mit 15 Weizenkörnern bezahlt
hatte, ertönte von der Kellertreppe
ein lautes Geschrei: „Papa, Papa
Korno, komm schnell! Es ist was
Schreckliches passiert! Schnellll!“
Papa und Mama Mausekatz rannten zur
Treppe und fanden Schoggel, der vor
Aufregung rosa Ohren hatte, und Kässy,
die nur quiekte: „Kommt schnell mit!“
Alle vier flitzten nach oben, aus
dem Haus, über den Bürgersteig, zu
einem Gully am Straßenrand. Dort
zeigte Kässy hinein: „Da, da !
Mehlinchen!“
Und tatsächlich. Tief unten im Gully
saß Mehlinchen auf einem Klumpen
Unrat, der im Gullysieb hängengeblieben
war, und piepselte. Papa und Mama
waren entsetzt.
Noch ehe sie überlegen konnten, was
hier zu tun sei, kam plötzlich
der Kater aus der offenen Haustür
geschlichen, und alle Mäuse verkrochen
sich schleunigst unter den Wurzeln
eines Straßenbaumes.
Der Kater hatte Mehlinchens Piepsen
gehört, steuerte schnurgerade auf den
Gully zu, schaute hinein -- und
setzte sich daneben. Auch er schien
zu überlegen, wie er den Braten
herausbekäme.
Mittlerweile erfuhren Papa Korno und
Mama Salamine, wie das Unglück
geschehen konnte. Kässy quiekte böse:
„Schoggel ist schuld!“ Schoggel stotterte:
„Wir haben, wir haben uns nur
so, nur ein bisschen gestritten!“
— „Ja,
und dann hast du Mehlinchen einen
Schubs gegeben, und es ist in
den Gully geplumpst!“ schimpfte Kässy.
Papa Korno schwieg und sann auf
Rettung.
Der Kater hatte Geduld. Eine
geschlagene halbe Stunde hockte er
neben dem Gully und beobachtete das
arme Mehlinchen. Gott sei Dank wurde
er dann von einem Traktor, der
die Straße entlang-holperte, verjagt.
Dieser Traktor aber hatte Reisig
geladen. Reisig für ein Martinsfeuer
auf dem Apfelborner Berg. Und gerade
vor dem Gasthaus, in dem die
Mäuse wohnten, fiel ein Bündel dürrer
Zweige herunter.
Und diese Zweige brachten Mama
Salamine auf eine gute Idee.
Eine wirklich glänzende Idee! Ein
langer dünner Zweig wurde herausgesucht,
mit vereinten Kräften zum Gully
geschleift und mit viel Mühe
hineinbugsiert. Schräg ragte er nach
unten und endete genau vor dem
jammernden Mehlinchen. „So, nun krabbele
daran hoch, Kleines!“ rief Papa Korno
aufmunternd. Mehlinchen richtete sich
zögernd auf, legte die Pfötchen an
den Zweig
— und
fünf Sekunden später saß es gerettet
auf der Straße.
Erleichtert trippelten die Mäuse zurück
in ihr Nest, und Papa Korno
sagte: „Du hast Glück gehabt,
Mehlinchen! Auch Onkel Mausbert ist
einmal in einen Gully gefallen
— aber
das erzähle ich euch heute Mittag
vor dem Schlafengehen.“
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