22.
Ist Quops ein Feigling?
Schon wieder. Schon wieder streiten sie sich, denkt Quops und horcht
an seiner Tür. Alles still. Dann hört er seinen Vater schreien: „Ich
find’ das Geld ja auf der Straße. Jeden Tag. Neun Stunden lang!“
Dann knallt eine Tür, und Quops hört nichts mehr.
Quops fragt sich, ob sich alle Eltern soviel streiten. Quops findet
Streiten doof. Er geht dann lieber weg, wenn’s kritisch wird; wie
neulich, wo ihn Sven in der Pause geärgert hat. Sven ist sowieso
viel stärker als er. Und brutal. Wenn er sich mit dem einlässt, hat
er nachher den Kürzeren gezogen, jede Menge blauer Flecken, und
Schlimmeres. Und die andern – Andy behauptet neuerdings, er habe ein
Messer, ein Klappmesser. Ob das stimmt ? Wenn es stimmt – Quops wird
ihnen möglichst aus dem Weg gehen. Sollen sie ruhig hinter ihm
herbrüllen: „Feige Sau!“ – Lieber ein Feigling als ...
Kurz entschlossen öffnet Quops piepsleise seine Zimmertür, schleicht
sich durch die Diele – hört leise Stimmen aus dem Wohnzimmer – und
schiebt sich lautlos durch die Wohnungstür. Bald fegt ihm der milde
Herbstwind um die Ohren. Sein Mountainbike ist neu bereift und fährt
wie eine Eins.
Quops kurvt durch viele Straßen. Kommt schließlich in eine Gegend,
wo er noch nicht war. Villen gibt’s da, große Gärten und Bäume wie
im Wald; dann eine ewig lange Hecke mit einem Zaun mittendrin – und
am Ende ein großes offenes Tor. Ein Friedhofstor. Quops will eben
kehrtmachen – Friedhof ist langweilig – da raschelt es neben ihm in
der Hecke. Ein Kaninchen hoppelt heraus, und noch eins hinterher.
Sie spielen regelrecht Nachlaufen. Hierhin und dorthin. Verschwinden
wieder unter der Hecke. Quops kettet sein Fahrrad an einen
Laternenpfahl und läuft durch das Tor. Er sieht die Kaninchen nicht.
Sie müssen links irgendwo sein. Quops guckt sich um und schlendert
langsam den linken Weg entlang. Wo sie stecken? Er weiß nicht, dass
sich die Kaninchen unter einen Rhododendronbusch ducken und ihn
beobachten.
Quops lässt sich treiben. Guckt die uralten Bäume, betrachtet einen
komischen Grabturm, auf dem steinerne Tauben sitzen, und tappt immer
weiter. Ganz kleine Gräber mit ebenso kleinen Grabsteinen erwecken
seine Aufmerksamkeit. Er liest: „Daniel“ – oh – vier Jahre war der
nur alt! Sascha, Markus, Bettina – das waren noch Babies. Quops ist
baff. So kleine Kinder und sind schon tot. Er versinkt in
schwierigen Gedanken – da hört er einen Schrei. Irgendwo hinter den
Büschen, ein Gezeter, „nein, neiein!“, eine knarrige Männerstimme:
„Gib her – sonst ...!“ – Quops rührt sich nicht. Doch dann – „Lass
los oder – ich mach’ dich kalt!“ droht die Stimme – Quops reißt den
Mund auf und brüllt – wie ein Löwe, wie ein Dinosaurier, brüllt
lauter, als er kann: „Huuaaah - iiiuuuhh – roooeeh – rrouuaahh!“
Als er später gefragt wird, wieso er darauf kam, so zu brüllen, weiß
er keine Antwort.
„Das war prima!“ sagt der Polizeibeamte später, „das hat den Räuber
verunsichert, hat ihn verjagt!“ – „Der hatte bloß Angst, der Junge!“
sagen ein paar Leute, „der hätte lieber zu Hilfe kommen sollen!“
Als Quops aufhört zu brüllen, ist alles still. Er lauscht. Dann
pirscht er sich vorsichtig um die Wegbiegung. Auf einem Parallelweg
kauert eine alte Frau, auf dem Boden zusammengesunken. Zwei Frauen
kommen eine Treppe herunter, laufen zu ihr hin und reden auf sie
ein, tätscheln ihr die Schulter. Die alte Frau rührt sich nicht.
„Die hat ’n Schock!“ sagt die eine Frau, „da muss ’n Arzt her!“ –
Quops traut sich nicht heran. Ob die alte Frau – ob sie tot ist?
Die Frau war nicht tot, Gott sei Dank, nur fix und fertig, und ihr
Knie war verletzt; der Handtaschenräuber hatte sie zu Boden
gestoßen.
Das erste, was sie sagte, als die Polizei kam, war: „Da hat einer so
gebrüllt – und da is’ er abgehauen, der Strolch!“ Und als die
Polizisten fragten, ob es einen Zeugen gebe und wer gebrüllt habe –
da hat Quops gesagt – ganz leise – „das war ich!“
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