23.
Ein blutiger Tag
Bisher war Quops noch nie allein beim Arzt gewesen. Doch heute
morgen fühlte sich seine Mutter nicht wohl und hatte gemeint, er sei
ja groß genug, um allein zur Blutentnahme zu gehen. Quops hasste die
Blutentnahme, jeden Monat, wegen seiner blöden Krankheit. Auch wenn
er dafür jedes Mal die erste Stunde Schule schwänzen konnte, da die
Blutentnahme morgens mit nüchternem Magen erfolgen musste.
Es war Quops unbehaglich zumute, als er im Wartezimmer auf seinem
Stuhl hockte. Hoffentlich klappte das mit dem Picken besser als beim
letzten Mal, als die Arzthelferin ihn dreimal stechen musste, ehe
das Blut lief.
Quops hatte das Tierbuch auf dem Schoß, das er immer bei seinem
Hausarzt im Wartezimmer durchblätterte. Er hatte ein paar Sätze über
das Jagdverhalten von Hunden und Katzen gelesen - doch er konnte
sich nicht konzentrieren. Es war ein furchtbarer Lärm im
Wartezimmer, ein Lärm von draußen von der Straße. Vor der Arztpraxis
wurde die Straße aufgerissen, und immer wieder dröhnten die
Presslufthämmer durch die geschlossenen Fenster. Es war nicht zum
Aushalten.
Quops hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und starrte ganz
benommen auf das aufgeschlagene Buch auf seinen Knien. Erst als das
Getöse einmal wieder abbrach, nahm er die beiden Abbildungen, die er
sah, bewusst zur Kenntnis: drei Jagdhunde, die einen Hasen hetzten,
und eine Wildkatze, die sich zum Sprung duckte, um sich auf eine
Ratte zu stürzen.
Quops las ein bisschen weiter, etwas über den Jagdinstinkt – da gab
es ein lautes Stimmengewirr und ein Getrampel vor der Tür der Praxis
und dann wurde heftig geklingelt.
Herein quetschten sich drei Straßenarbeiter, die einen ihrer
Kollegen schleppten. Der stöhnte leise, und um sein eines Bein war
eine blaue Arbeitsjoppe gewickelt, die nass von Blut war.
Quops konnte nicht wegschauen, und als der Mann auf eine Rollliege
gelegt und in das Untersuchungszimmer geschoben wurde, horchte er
beklommen auf alle Geräusche.
Außer ihm war nur noch ein alter Mann im Wartezimmer. Quops hörte,
wie er etwas vor sich hinmurmelte von „erwischt“ und „Krieg“.
Plötzlich stöhnte es laut aus dem Arztzimmer. Quops hätte sich am
liebsten wieder die Ohren zugehalten.
Zum Glück rief ihn gleich danach eine Arzthelferin ins Labor, um ihm
Blut abzunehmen. Er hatte nun gar keine Angst mehr; das bisschen
Picken war ein Pieps gegen das mit dem Bein! Und doch, hingucken,
wie sein Blut ins Glasröhrchen lief, konnte Quops diesmal nicht.
Als er kurz darauf die Arztpraxis verließ, warf er einen Blick auf
die Baugrube. Wie das mit dem Mann wohl passiert war? Ein
Presslufthammer lag neben einem Gullydeckel, und daneben – daneben
lag ein Arbeitsstiefel voller Blutspuren. Einen Blick darauf – und
Quops suchte das Weite. So schnell war er noch nie nach der
Blutentnahme zur Schule geflitzt.
Der Schulmorgen verlief normal, der Nachmittag auch. Gegen Abend, es
ist schon dämmrig in seinem Zimmer, da hört Quops ein Kratzen an
seiner Zimmertür. Tibby? Er öffnet die Tür einen Spalt – und herein
quetscht sich Tibby und legt ihm etwas vor die Füße. Was ist das?
Quops knipst das Licht an. Vor seinen Füßen liegt eine dicke
schwarze Amsel; sie hat den gelben Schnabel weit aufstehen und japst
nach Luft; ihr Herzchen klopft sichtbar unter dem Gefieder. Und an
ihrem Hinterkopf ist eine blutige Schrunde,
Quops setzt sich auf den Bettrand und schaut abwechselnd auf Tibby
und auf ihr Opfer. Die Amsel japst und zuckt. Tibby hat sich
danebengelegt und schnurrt aus vollem Hals.
„Oh, Tibby, du Miststück! Du darfst keine Vögel fangen!“ Die elende
Amsel geht Quops so ans Herz, er ist so aufgeregt – er schlägt Tibby
aufs Hinterbein, ziemlich fest. Tibby maunzt auf, springt zur Seite
und schaut Quops mit seltsamen Augen an. Dann bleibt sie unschlüssig
stehen. Quops schubst sie mit dem Fuß aus dem Zimmer und schließt
die Tür. Er hebt die Amsel auf und legt sie auf die Fensterbank, Sie
atmet schwächer. Auf der Bodenplatte, wo sie gelegen hat, ist ein
kleiner Blutfleck. Quops macht das Licht wieder aus und setzt sich
zu der Amsel.
Da plötzlich – ein leises Mäunzeln vor der Tür. Quops will nicht
aufmachen, dann geht er doch zur Tür; Tibby weicht zurück, als er
öffnet, und sieht ihn mit großen Augen an.
„Du dummes Katzenvieh!“ sagt Quops, „du – du weißt ja nicht, dass du
das nicht sollst, Vögel fangen!“ Quops hebt Tibby hoch, und sie
liegt ganz ruhig in seinem Arm. Er hätte sie nicht so grob behandeln
dürfen – wie stand es in dem Tierbuch beim Doktor: „Der Jagdinstinkt
ist der Katze angeboren und dient dem Nahrungserwerb.“
Quops schaut auf Tibby, die wieder leise schnurrt, und dann suchen
seine Augen das schwarze Vogelklümpchen auf der Fensterbank, das man
in der zunehmenden Dämmerung kaum mehr erkennen kann. Es rührt sich
nicht mehr.
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